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Komplexität und Baubiologie

Ein Architekt muss ein Generalist sein. Er muss alles wissen. Der Architekt oder die Architektin setzt sich mit der Bauherrschaft auseinander und erstellt einen Entwurf, ein Projekt. Das ist einfach und klar. Eine schöne, befriedigende Arbeit. Der Architekt schafft ein wohnliches neues Eigenheim oder eine besinnliche Friedhofkapelle, oder einen durchorganisierten Flughafen.

Ist der Entwurf gediehen, machen sich die Bauplaner Gedanken über die Materialisation, die Organisation, die Technik, die Auflagen der Behörden, die Sonderwünsche der Auftragsgeber, die Baueingabe, die Verkehrserschliessung, die Kosten und die Terminlage. Fragen der Finanzierung werden aufgeworfen, Terminwünsche eingebracht und das Raumprogramm überarbeitet. Das hat Konsequenzen auf die Kosten, die Technik und den Entwurf als Ganzes.

«Das Kerngeschäft von Planern ist es komplexe Probleme zu lösen»
Walter L. Schönwandt, Katrin Voermanek, Jürgen Utz, Jens Grunau, Christoph Hemberger
Komplexe Probleme lösen - Ein Handbuch

Spezialisten werden zugezogen. Sie erstellen ein ausgeklügeltes Energiekonzept, das Grundstück wird überprüft, Löcher in den Boden gebohrt, der Geologe runzelt die Stirn, der Kantonschemiker entdeckt Altlasten, die Zufahrtstrasse ist erst auf dem Bildschirm, es gibt keinen Gasanschluss, die Kanalisation ist zu hoch, der Baubiologe spricht von Wolle und Lehm, der Ingenieur von Stahl und Beton, die ganze Materialisation wird angezweifelt, der Entwurf muss überarbeitet werden, die Kosten laufen davon, das Terminprogramm ist Makulatur, die Bauherrschaft droht mit rechtlichen Schritten und die Nachbarn mit Einsprachen. Die Bauherrin hat in der "Annabelle" einen Artikel über Wohngiftsensibilität gelesen. Das Energieproblem ist ungelöst, im Hitzesommer wird die Wärmedämmung hinterfragt, die Bauherrschaft drängt auf Baubeginn. Die Planungsarbeiten sind im Rückstand, Schuld sind die Sonderwünsche, das akustische Gutachten, die Digitalisierung, die Auflagen der Denkmalpflege und vor allem die überrissenen Vorstellungen des Bauphysikers. Unterdessen fahren die Bagger auf.

Komplexität - Ein komplexes System besteht aus vielen verschiedenen, miteinander vernetzten und zeitlich veränderbaren Einflussgrössen.

Mittendrin steht der Architekt, der mit seinem Team alle Fäden im Griff hat. Er ist wie ein Fels in der Brandung oder wie eine Sandburg im Angesicht des Tsunami. Bauen ist komplex. Aber wie sollen wir derartig komplexe, vernetzte Probleme lösen, wenn wir lineares Denken gewohnt sind? Komplexität beinhaltet unzählige Abhängigkeiten und Referenzpunkte. Das ist besonders bei Grossprojekten, wenn man vom bauen spricht, klar ersichtlich, etwa beim Bau eines gigantischen Flughafens oder einem spektakulären Opernhaus. Aber auch der Bau eines Einfamilienhauses kann in gleicher weise komplex sein.

Dann kommt eine Finanzkriese - alles ist anders. Oder eine Energiekrise. Plötzlich müssen alle Bauten exzessiv gedämmt werden. Oder die Klimakrise, in der die neuste Technologie der Energieerzeuger, Hightech Ölheizungen, nur noch Schrott sind. Die Wärmedämmung verlagert sich vom Winter auf den Sommer, die Wasserhaltung wird zum Problem und alle reden davon, dass es die Bauwirtschaft in der Hand hat. Dann kommt die Pandemie. Wie gross wird ihr Einfluss auf das Bauen sein? Auf Städteplanung? Die Komplexität wird zu einem Gugelhopf, in den man zu viel Backpulver gegeben hat, der jetzt gigantisch aufgegangen ist, aber nicht mehr schmeckt.

Jetzt bringen wir die Baubiologie ins Spiel. Damit wird Komplexität erst richtig interessant. Baubiologen oder Baubiologinnen kennen sich mit Komplexität aus. Sie sind es gewohnt vernetzt zu denken und Probleme nicht einfach linear geradlinig anzugehen. Sie beobachten achtsam jede Verknüpfung, achten auf Konsequenzen und Abhängigkeiten. Sie lauschen mit den Sinnesorganen, ob ein Baumaterial, eine Bauweise oder eine Gestaltung ein angenehmes Gefühl auslöst, oder ob es beisst, reizt oder ein Kältegefühl aufkommt.

Jedes Material, Stein, Lehm, Holz, Beton, Stahl, Glas, Kunststoff, Kupfer, Wolle, Sand, Kies, Wasser, oder Fasern hat einen kulturellen Hintergrund, eine Beschaffungsproblematik, einen Lieferweg, ein wirtschaftliches Gefüge, eine Bauweise, eine Tradition. Beton braucht Gletscher, eine Kiesgrube, einen Steinbruch, eine Zementfabrik, Wasser, Transportfahrzeuge, Energie, Ingenieure und verarbeitende Fachleute. Jeder Faktor ist eine Verknüpfung, woran tausende Fäden hängen, von der Gewinnung des Rohstoffes bis zur Putzfrau im Büro des Direktors im Zementwerk. Bauen mit Beton ist sehr komplex. Einflüsse auf die Kultur der Gesellschaft sind schwer abzuschätzen.

«Entstehen aus der Komplexität, zwischen Krise, Digitalisierung und Rückbesinnung, neue Formen des Bauens, neue Baukonstruktionen oder neue Bauabläufe?»

Holz kommt aus dem Sägewerk vom Dorf nebenan. Dahin kommt es aus dem Wald ein paar Kilometer weiter. Im Baugewerbe wird auch Holz aus Polen, Südamerika oder Indonesien verarbeitet. Mit Holz wird in unserer Gegend seit tausenden von Jahren gebaut. Holzwirtschaft ist wie Zwiebeln ziehen, nur der Zeithorizont ist grösser. Baumschösslinge werden gesetzt, zu grossen Bäumen aufgezogen, abgeholzt und zu Bauholz gesägt oder zu Pellets und Spanplatten verarbeitet. Gleichzeitig werden für das geschlagene Holz neue Bäume gepflanzt. Der Begriff Nachhaltigkeit kommt aus der Holzwirtschaft. Die Architektin und Baubiologin Theodora Rauch hat über Nachhaltigkeit am Beispiel von Holz ein Buch geschrieben, das dessen Komplexität hervorragend darstellt. Holz ist ein sehr angenehmer, traditioneller und vertrauter Rohstoff. Viele Bäume sind Heilpflanzen.

Wie gross ist der Einfluss einer Bauweise, einer Baukonstruktion, eines Baumaterials auf unsere Kultur, auf die Art und Weise wie wir bauen und wohnen, auf die Häuser, Siedlungen und Städte? Wie stark ist unsere Kultur von der Bereitstellung eines Rohstoffes, eines Baumaterials abhängig? Viele Dämmstoffe, Dichtungen und unzählige praktische Kunststoffe kommen aus einer chemischen Fabrik. Wir leben mit Kunststoffen, chemischen Werken und ihren Emissionen zu Land, zu Wasser, in die Luft und in die Atmosphäre. Das ergibt viele, oft für Menschen, Fische, Käfer, Flüsse und Meere gefährliche und unangenehme Verknüpfungen im Netz der Komplexität, mit Konsequenzen bis tief in unseren Alltag hinein. Vielleicht ist Ethik, gerade zu Zeiten der Pandemie, ein bemerkenswerter Faktor in der Komplexität der Bauprozesse.

Natürliche, pflanzliche Fasern für Wärmedämmungen werden nachhaltig angebaut, wie etwa Hanf, Flachs, Kokos und Kork, oder aus Abfallprodukten upcycelt, zum Beispiel Cellulosefasern aus Zeitungspapier, Jutefasern aus nicht mehr benötigten Jutesäcken oder Granulat für Kunststoff Recyclingprodukte.

Komplexität ist in dieser Zeit ein grosses Thema, Baufachleute müssen sich mit Komplexität beschäftigen. Für Baubiologen lohnt es sich besonders sie zu akzeptieren, komplex zu denken und mit Komplexität und der Vereinfachung zu leben. Baubiologie ist sehr komplex, ein Netzwerk mit sehr vielen Verknüpfungen und angenehmen sinnlichen Erfahrungen, bis hin zur Schokolade.

Komplexität

ist eine vielschichtige, zeitlich beeinflussbare Gesamtheit von miteinander rückgekoppelten, gleichen und ungleichen Elementen, Objekte und Subjekte, auf hierarchisch geordneten Ebenen unterschiedlicher Qualität.

Foto: pixabay, Michael Gaida

«Das Kerngeschäft von Planern ist es komplexe Probleme zu lösen»

Walter L. Schönwandt, Katrin Voermanek, Jürgen Utz, Jens Grunau, Christoph Hemberger (Komplexe Probleme lösen - Ein Handbuch)

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